Eine Witwe ohne Sandsack

Seinen Namen will er nicht nennen. Seine Geschichte erzählt er trotzdem. Vielleicht, weil es auch sein erstes Hochwasser ist. Vielleicht, weil auch er beeindruckt ist von dem, das da zehn Schritte vor seinem Fenster das Hafenbecken längst verlassen hat und an dem Rasenstreifen leckt, der an den Fußweg grenzt. Vielleicht, weil er auch Angst hat vor dem, was noch kommen mag. So wie ich.

Und so erzählt er davon, wie er seine kleine Wohnung im Souterrain leer geräumt, wie er – bis auf einen Tisch, einen Stuhl und den Fernseher – alles eine Etage höher getragen hat. Erzählt, dass er Urlaub hat und so lange bleiben wird, bis der Landrat von Ludwigslust-Parchim die Evakuierung anordnet.

15 Minuten bleiben ihm und den anderen in Dömitz an der mecklenburgischen Elbe, zerschneidet der Heulton der Sirene das muntere Vogelgezwitscher dieser JuniTage. Dann ist ein Deich gebrochen, die kleine Stadt innerhalb nur einer Viertelstunde geflutet.

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Eine alte Dame lehnt mit der Hüfte am Sattel ihres Fahrrads. Blickt über das Geländer einer Brücke in den Dömitzer Hafen. “So hoch hatten wir das Wasser noch nie.” Nicht 2011. Nicht 2006. Nicht 2002 bei der “Jahrhundertflut”. Und auch nicht 1946, als sie quer durch die Stadt in einem Kahn von der Schule nach Hause gefahren worden sei und die Eltern eines Mitschülers die zwei einzigen Kühe am Altar der Kirche angebunden hätten.

Sie lächelt. Und erzählt dann von 2013. Dass ihr die Sandsäcke vor dem Haus fehlen. Weil der Mann gestorben und niemand ihr behilflich ist. Sie weint. Und schlägt das Angebot aus, den Wagen mit Säcken zu beladen und Türen und Fenster ihres Hauses damit abzudichten. Wieder und wieder schüttelt sie darüber den Kopf. Drückt meine Hand. Sagt danke. Und: “So hoch darf es einfach nicht kommen.”

Als zwei Tage später die Sirene heult, reiße ich mir die Kopfhörer von den Ohren und springe aus dem Übertragungswagen. Gebrochen. Der Deich – er ist gebrochen. 15 Minuten. Der Kollege. Er schläft. Ich rufe ihn an. Er hat die Hosen schon an. Die Sirene verstummt. Wir warten. Lauschen. Blicken um uns. Man muss es doch jetzt langsam hören. Das Wasser. Muss es sehen. Nichts. Es bleibt still. Dömitz hat den Atem angehalten. Ein Anruf beim Stab. Die Sirene – geschaltet von der Leitstelle der Feuerwehren. Zur Probe. Ein technischer Fehler.

Das Hochwasser 2013 an der Elbe in Mecklenburg – es ist auch mein erstes. Gedankenverloren verpasse ich auf der B 191 die Abfahrt nach Dömitz. Überquere die Elbbrücke Richtung Niedersachsen. Unter mir wälzt sich eine braune Masse gen Norden. Als am Abend ein Boot der Bundeswehr hinaus fährt auf die Elbe, suchen die Journalisten den Flusslauf vergeblich. Einst 200 Meter breit, gurgelt das Wasser nun auf bis zur vier Kilometern Breite an den Deichkronen entlang.

Am Ende wird der Hochwasserscheitel der Elbe in Dömitz weit unter den Prognosen und gut 40 Zentimeter über dem Punkt liegen, bis zu dem die Deiche ausgelegt sind. Der Puffer muss tagelang dem gewaltigen Druck der Wassermassen standhalten. Die Deiche werden weich. Aber – sie halten. Und der Mann aus dem Souterrain – kann wieder auf dem Sofa fernsehen.

 

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