Warum Kostya und Zhenya jede Woche im Frontgebiet ihr Leben riskieren

Es ist neblig in Tschornomorsk am Schwarzen Meer an diesem Morgen. Und früh. Zu früh für die Ausgangssperre, die in Wismars Partnerstadt in der Ukraine bis fünf Uhr andauert.

Kostya aber hat eine Erlaubnis. Freiwillig hilft der 38-Jährige aus Tschornomorks. Unterstützt Armee und Menschen, die nahe der Front leben. Vom ersten Tag an des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine.

Kurz vor vier Uhr steigen wir seinen PS-starken Kombi. Sehen tun wir nichts. Kostya weiß, wo es lang geht. Nach Odesa. An eine Tankstelle. Zum Hilfstransporter.

Den fährt Zhenya. Keckes Lachen. „Überladen. Wie immer.“ Der Auspuff schleift beinahe über den Asphalt. Auch Zhenya muss sich immer wieder vorbeugen zur Windschutzscheibe. Zwischen Odesa und Mykolajiw hängt der Nebel schwer bis auf die Straße.

Erster Stopp dort bei einem Freund. Kurz nur werden schwarze Plastiksäcke ausgeladen. Gefüllt mit Kleidung. Schulhefte finden auf der Rücksitzbank Platz. Karierte. Mit einem Warnhinweis für Kinder, wo sie auf Minen treffen könnten. Was dann zu tun sei.

Der Kaffeebecher zwischen den Schuhen wärmt die Füße. Notwendig. Denn die Schiebetür am Transporter hält sonstwer in den Angeln. Vor drei Wochen sei eine Rakete explodiert. Nicht weit von ihnen. Die Tür sei rausgeflogen, sagt Zhenya. Keckes Lachen.

Nächster Stopp an einer Tankstelle auf dem Weg zu einem Internat für Kinder in Wosskressenske in der Oblast Mykolajiw. Kaffee. Und Zeit für eine Zigarette. Als die Invasion begann, sei er in Los Angeles gewesen, erzählt Zhenya. Auf einem Tanker für Chemikalien als Kapitän.

Der damals 35-Jährige kehrte zurück. Meldete sich zur Armee. Freiwillig. Danach sammelt er Geld für Nachtsichtgläser, Drohnen, Autos. Als Volontär, wie die Freiwilligen heißen.

Seitdem fährt er mit Kostya ein Mal in der Woche auch nach Kherson. Besetzt mit Kriegsbeginn. Im November 2022 befreit. Doch der Fluss durch die Stadt teilt die Front noch heute.

Warum sie Woche für Woche ihr Leben noch mehr riskieren, als der Krieg es ihnen ohnehin schon abverlangt? Kostya und Zhenya grienen sich an. Gewohnt seien sie das inzwischen.

Weiter geht es auf der E58. Panzersperren. Schützengräben. Checkpoints. Mitleidig betrachtet ein Soldat den Transporter. Irgendetwas stimmt nicht damit.

Riesige Solarparks liegen in den Hügeln. Verlassene Häuser in den Dörfern. Zerbombte auch. Eine Galerie mit den Portraits mit Soldaten. Gestorben im Kampf gegen Russland. Zhenya und Kostya zählen die ukrainischen Flaggen auf den Friedhöfen. „Es werden von Woche zu Woche mehr.“

Letzter Stopp vor Kherson. Eine Tankstelle. Kaffee und vier Lose. „Ein Ritual – jedes Mal“, sagt Zhenya. Eine Niete, drei Gewinne. Von denen kauft er fünf weitere Lose. „Bis wir den Jackpot knacken.“ Zhenya lacht. Sie bräuchten das Geld. Für die Hilfslieferungen.

Zurück am Auto legen sie die Westen. Die mit den Platten an Oberkörper und Rücken. Justieren die Gurte der Helme. Dafür sei nachher keine Zeit mehr. Noch zehn Kilometer bis Kherson.

Die werden lang. Etwas kreischt furchtbar unter uns. Das rechte Vorderrad schlingert. Der Wagen lässt sich nur noch mit zwanzig Stundenkilometern steuern. Auf offenem Terrain. „Nicht gut.“

Ob Wohnhaus, Autosalon, Lagerhalle – nichts als Ruinen links und rechts der Straße. Dann geht nichts mehr. An einer Bushaltestelle in Kherson wartet Viktoria mit einem Mann, nimmt die Kleider, die Spielsachen, die Schulhefte entgegen.

Wir schleichen zu einer Werkstatt. Sonntags brennt dort Licht. Das Kreischen: Bremstrommel defekt hinten rechts. Dem schlingernden Vorderrad vorne rechts fehlt das Kugellager. Reparatur? Ausgeschlossen. Die Ersatzteile gibt es nicht knapp einen Kilometer hinter der Front.

Also erst einmal Kaffee. Am Prospekt Ushakova. Jener Hauptstraße, die vom Fluss ins Zentrum führt. Auf der die Menschen die russischen Panzer stoppten. Allein mit der Macht ihrer physischen Existenz. Fürs Erste.

Dann folgten die Angriffe. Kherson – bis ins Mark getroffen. Fast kein Haus auf der Ushakova ohne Einschläge in der Fassade, ohne fehlende Fenster.

Vor einem sitzen Mutter und Tochter, machen Picknick auf einer Parkbank. Busse fahren. Die Mülleimer sind geleert. Der Automat einer ukrainischen Bank lädt blinkend ein zum Geld abheben. Rund 60.000 Menschen sollen noch leben in Kherson. Von ehemals 300.000 vor Kriegsbeginn.

Es kracht. „Artillerie. Von den Russen“, sagt Zhenya. „Das ist hier so.“ Die Antwort der Ukrainer folgt. Dazwischen liegen vielleicht 80 Schritte weiter hinauf die Ushakova.

Sie seien ja nun wirklich schon oft in Kherson unterwegs gewesen, sagt Zhenya. Zu Fuß aber noch nie. Und er lacht. Dann zählt er vom nächsten Krachen bis zur Antwort. „So etwa vierzig Sekunden. Sieht aus, als sei der Krieg hierher zurückgekehrt.“

Inzwischen hat Kostya ein Blabla-Car organisiert. Leute, die mit ihren privaten Autos als Taxi unterwegs sind. In einer Stunde werden wir mit Kostya und Zhenya auf dem Rückweg sein. In Mykolajiw heulen Sirenen derweil wegen einer weiteren russischen Attacke.

Russland weckt Odesa mit Raketen und Drohnen

Die Ukraine färbt sich an jenem Morgen rot auf der digitalen Alarmkarte. Zwei Drohnen treffen Odesa kurz nach sechs Uhr morgens. 

Zehn Raketen. Sechs Drohnen. Zwölf dieser russischen Todesbringer hat die ukrainische Luftverteidigung in der Nacht zerstört. Bevor sie einschlagen konnten. 

Die zwei Explosionen am Morgen kurz nach sechs Uhr Ortszeit in Odesa. Kurz nach 5 Uhr am Sonntagmorgen in Deutschland also. Sie waren der ukrainischen Armee zufolge Treffer. Dumpfe Gewalt. 

Einen landwirtschaftlichen Betrieb soll es getroffen haben im Süden der Stadt. Anders als im Juli. Als die Treffer mitten in der Altstadt landeten – im Weltkulturerbe der UNESCO. 

In der Verklärungskathedrale klafft noch immer ein Loch in der Mauer. Trümmer liegen aufeinander gestapelt hinter hölzernen Barrieren. Hinein dürfen wir trotzdem. 

Vorbei an Sperrholzwänden statt Fensterscheiben. Entlang unterhalb der nun freiliegenden tragenden Konstruktion unter dem Gewölbe. Hinunter zwei Etagen tief. Leben wird dort gefeiert in der ukrainisch-orthodoxen Gemeinde. Tauffest in Odesa. 

Die Sandsäcke fehlen nun zumeist, die noch im Januar dieses Jahres Schulen, Universitäten, die Oper geschützt haben. Die kleinen Generatoren auch. Odesa ist wieder versorgt mit Strom. 

Was fehlt, ist offenbar so mancher Bewohner. «Продам» steht an den Fassaden von Häusern, hängt auf Bannern an Balkonen. Zu verkaufen. Das prachtvolle Odesa. 

An einem der schönsten Aussichtspunkte stehen zwei Touristengruppen. Die ältere Stadtführerin spricht Russisch. Die jüngere Ukrainisch. Die Frauen zeigen auf ein Segelschulschiff, das nicht foto- oder videographiert werden darf. Genau so wenig wie der Hafen an sich. 

Die Fußgängerbrücke zur berühmten Potemkinschen Treppe ein paar Hundert Meter weiter ist mit Stacheldraht abgesperrt. Dorthin darf nur das ukrainische Militär. Der Blick ist zu detailliert auf den bereits mehrfach von Russland bombardierten Hafen. 

Auf der Fußgängerpromenade direkt oberhalb des größten Hafens in der Ukraine: die gleichen Verbotsschilder. Dahinter ein Gebäudekomplex, der eine Stomatologie beherbergt: Продам. Zu verkaufen. In Trümmern liegen auf dem Hafengelände unterhalb der Promenade noch Hallen. Wohnhäuser unmittelbar gegenüber auch. 

Am einstigen Denkmal von Katharina, der Zweiten von Russland, fehlt die Zarin höchstselbst. Statt der Statue ragt nun eine ukrainische Flagge in den blauen Septemberhimmel. Im November vergangenen Jahres hatte die Stadt das Monument abreißen lassen. Aus Protest gegen den russischen Angriffskrieg. Katharina, die Große, hatte Odesa 1794 gegründet.

Nun stecken die Menschen kleine ukrainische Fahnen in den Rasen um den Sockel herum. Für die Toten des Krieges. Eine junge Frau schluchzt hinein in ChilloutMusik. Die kommt aus einem der unzähligen Lokale nebendran. Der junge Mann daneben wischt sich die Tränen aus den Augen, bevor er den Arm um sie legt. 

Spätsommer im Krieg: Mit dem Bus nach Odesa

Der erste Kaffee. Kurz hinter der Grenze in der Oblast Lwiw. Ohne Milch. Und ohne Zucker. Gut so, lobt die Frau hinter dem Tresen. Ein richtiger Kaffee. 

Frischer Teer liegt auf der Straße nach Iwano Frankivsk. In den Niederungen zerstiebt der Morgennebel dieses Spätsommers. Im Bus überwiegend junge Frauen. Die ersten Anrufe zuhause. Auf Russisch. Auf Ukrainisch. Zurück im heimischen Mobilfunknetz. Am Horizont die die Hügel des Dnister-Tals. 

13 Grad Celsius zeigt das digitale Thermometer im Bus. Bis zu 26 sollen es werden. In Odesa am Schwarzen Meer. Noch gut zehn Stunden zu fahren. 

Doch bis dahin werden die Menschen die ersten Kürbisse auf die Bank legen vor ihrem Haus zum Verkauf, werden an den Bushaltestellen der Dörfer warten, eine Kuh an einem Strick über die Straße führen. Sie werden einen Teppich ausklopfen auf dem Hof, auf ihren kleinen Feldern ernten und Furchen ziehen.

Die Felder – die großen wie die kleinen – erzählen, wer weg ist und wer geblieben. So wie die Friedhöfe in den Dörfern und Städten, auf denen die ukrainische Flagge weht über dem Grab eines Soldaten. Eines Vaters. Einer Tochter. Eines Bruders. Cousins. Einer Ehefrau. 

Und einer Daunendecke gleich, legen sich Wolken über die satte Erde. Wie kann aus einem solchen Himmel so viel Tod herabfallen. 

Stop am Bahnhof in Khmelnytskyi. Luftalarm. An diesem Vormittag fast in der gesamten Ukraine. Woher wir kommen, will eine junge Frau wissen. „Deutschland. – Ah! Und was machen Sie hier? Hoffentlich bleiben Sie sicher.“

Sie sei vor mehr als einem Jahr aus Mykolaiv geflohen. Bomben seien da jeden Tag gefallen. „Jeden Tag!“ Nun lebe sie in Holland. In Amsterdam. 45 Stunden Busfahrt sind es von dort. „Ich will meine Eltern endlich wiedersehen!“

Rund um die Städte lassen gesperrte Zufahrten und Panzersperren die Verteidigungsstellungen der ukrainischen Armee erahnen. Verdrängen kann den russischen Angriffskrieg auf dieser Busfahrt quer durch das Land nur, wer es schafft, nicht aus dem Fenster zu sehen. 

Auf der letzten Etappe gen Süden – auf einer Autobahn – ist es leerer als auf der A20 während des Lockdowns. Gedenk- statt Werbetafeln für die gefallenen Soldaten an den Straßen, Kränze an den Mahnmalen, militärische Checkpoints – es ist Tag 570 von Wladimir Putins dreitägiger „militärischer Spezialoperation“. 

Abends am Strand von Odessa. Musik und feiernde Menschen. Spaziergänger. Menschen, die ihre Füße kühlen im Schwarzen Meer. Dann wird es Zeit für den Heimweg. Ausgangssperre von 23 Uhr abends bis 5 Uhr morgens. 

Auch wenn Russland laut ukrainischer Armee seine Schiffe aus dem Schwarzen Meer abgezogen und in die See von Azov verlegt haben soll. Jedenfalls die, die von der russischen Schwarzmeerflotte noch übrig sind nach den erfolgreichen Drohnenangriffen der vergangenen Tage und Wochen. 

Eine Frau mit zwei Jungen fragt uns im Dunkel eines Parks nach dem Weg. Die blauen Punkte auf der digitalen Karte weisen die Richtung. Im Hof des Hotels wird noch gefeiert. Familie, Freunde sitzen beieinander. Essen. Trinken. Shisha rauchen. „Gibt es noch ein Bier trotz der Ausgangssperre? – Конечно!“, sagt Sasha. Natürlich. 

Die Nacht wird kurz. Der erste Alarm dröhnt kurz nach 3 Uhr über der Stadt. Aber nicht bis in die Träume. Der zweite weckt 4:57 Uhr. Nach und nach färbt sich die Ukraine auf der digitalen Alarmkarte von Ost nach West komplett rot. Und draußen in der Altstadt von Odesa sammelt eine Kehrmaschine den Müll des Vortages ein.

Tschornomorsk – dort, wo vom Krieg keiner mehr wissen will


Wer zum ersten Mal die Sirenen hört bei Raketenalarm, kann sich ein Beispiel nehmen an dem, was um ihn herum geschieht. 

Raketenalarm, der zweite, für mich. Im Hotel zwischen den Wohnblocks in Tschornomorsk. Der erste am Tag zuvor inmitten derer, die seit elf Monaten die Sirenen hören, war gefasster. 

Nun fährt der Körper lauernden Angriff. Atmet flach. Die Muskeln – angespannt. Ohren und Augen übernehmen das Kommando. Mehr die Ohren noch. Durch die Halsschlager pulsiert das Blut im Abstand weniger Zehntelsekunden. Raus. Rauchen. Stress runterfahren. 

Ein alter Mann trägt zwei leere Wasserbehälter vorbei an einem der Neungeschosser. Der Motor eines Ladas startet. Zurück aufs Zimmer. Zähne putzen. Schreiben. Geht nicht. Also wieder raus aus dem Zimmer. Raus auf die Straße. 

Dort nehmen die Menschen keine Notiz vom ersten Alarm dieses Tages. Von den zwei weiteren, die bis zum frühen Nachmittag folgen, ebenso wenig. Also: gucken, was die anderen tun. Weitermachen mit dem, was geplant ist. 

Mit dem Zusammenbauen von Kerzen für die Front im Karate-Club von Tschornormosk zum Beispiel. Dort, wo Nationalmannschaftscoach Oleksandr Tonkoshkur und seine freiwilligen Helfer seit Kriegsbeginn Kleidung sammeln, Geschirr und Medikamente für die Flüchtlinge aus den bombardierten Städten in der Ukraine.

Dort, wo sie Kissen nähen für die Soldaten und Tarnnetze flechten. Für Kherson andere als für Bahmut. Weil die Landschaft eine andere ist, die Farben der Stoffe deshalb passen müssen. 

Wo sie in den Kindergärten und Schulen festhalten am Unterricht. Die Eltern entscheiden, ob in Präsenz oder online. Wo aus ehemaligen Sportclubs unter Tage Klassenräume werden mit Tafel, Schulbank und Chemietoilette, in Kellern plötzlich Lego steht zum Spielen und Bär, Giraffe und Koala von dunklen Wänden lächeln wie zum Trost. 

Dort, wo im Kulturhaus der Chor aus voller Kehle singt, Mädchen und Jungen Stillleben malen oder im Keller der Bibliothek tief unten Eulen basteln aus Papier. Wo im Café die Leute vor ihren Laptops den Stromausfall belachen. 

Dort, wo im Sportpalast von Tschornormorsk das Wasser im Schwimmbecken weiterhin 22 Grad hat, die Eisbahn draußen geöffnet ist. Teuer, ja. „Aber wir brauchen Emotionen, positive Emotionen“, sagt Valentyna Chloptschyk, in der Stadtverwaltung zuständig für Sport und Kultur. 

Dort, wo Sascha im Tanzsaal in den Spagat rutscht mit einer Prothese. Weil der Einschlag einer russischen Rakete in Odesa der Sechsjährigen das linke Bein genommen hat. Dort, wo ein Mann die Straße überquert, die Militäruniform noch verpackt in durchsichtiger Folie. An der Hand seine Liebste. 

Dort, wo Olena Panasyuk mit ihren Mitarbeiterinnen in Holzkisten verstaut hat, was wertvoll ist im Museum Alexander Bely für Bildende Kunst. Die Gemälde, das Porzellan, die Bronzen ukrainischer Maler und Bildhauer. Gleich nach Kriegsbeginn. Damit nicht geschieht, was in Melitopol geschah, in Mariupol oder Tschnernihiw. Allein die Unesco-Kommission zählt bislang mehr als 236 beschädigte Kulturstätten in der Ukraine. 

Ein Fremdkörper ist der, der durch die Straßen geht in Tschornomorsk bei Raketenalarm und die Ohren spitzt bei jedem Geräusch. Ein Fremdkörper auch, wer „прилуки“ kauft, die ukrainischen Zigaretten, an einem der unzähligen Kioske auf den Bürgersteigen. Ein Fremdkörper, wer abends in einer der Bars noch ein Bier bekommt. Der Ausschank von Alkohol nach 20 Uhr ist verboten. Seit Putin Krieg führt gegen die Ukraine. 

Ein Fremdkörper, dem die Blicke auf der Straße, in der Bar, im Café sagen: „Du gehörst nicht hierher.“ Nein. Ich komme aus dem Frieden. Nur, zu welchem Preis. 

Luftalarm in Tschornomorsk

Die Sirenen selbst sind am frühen Dienstagnachmittag im Sportzentrum von Tschornomorsk mitten in einem Wohngebiet kaum zu hören. Olena Loboda von der Stadtverwaltung zeigt auf das Display ihres Telefons. Raketenalarm über der gesamten Ukraine. 

Draußen sammeln sich junge Volleyballer, Leichtathleten und Handballer. Reihen sich auf, warten auf das Kommando der Trainer. Abmarsch Richtung Schutzkeller in einem Wohnblock unmittelbar neben der Sportanlage. 

Passanten gehen vorüber. Frauen mit kleinen Kindern an der Hand. Schulkinder mit ihren Ranzen. „Wir haben noch zwanzig Minuten“, sagt Yulia Gribennikova, die als Übersetzerin dabei ist. Zwanzig Minuten bis zu einem möglichen Einschlag. 

Yulia winkt ab. Als der Krieg begann, habe sie sich eine Alarmapp runtergeladen auf das Handy. „Fast jede Stunde wurde ich nachts davon geweckt. Ich habe sie wieder gelöscht.“

Unten im Schutzkeller zeigt Yulia auf die Lampen an der niedrigen Decke. „Wir haben Glück, hier geht der Strom und wir haben Licht.“ Die Kinder und Jugendlichen aus den Trainingsgruppen unterhalten sich. Schauen aufs Telefon. Bis Oksana Demchenko, Leiterin des Sportzentrums, die Journalistin aus Deutschland vorstellt. „Hallo“, klingt es von den niedrigen Stühlen und Bänken. 

Ein Hallo kommt Alona Chupryna. Deutschland? Die Trainerin der Handball-Nationalmannschaft U16 erzählt, wie sie und ihre Auswahlmannschaft aufgenommen worden seien nach der Flucht vor dem Krieg. Wie ihren Spielern mit Ausrüstung und Geld geholfen wurde, sich auf Meisterschaften vorzubereiten. Wie bei einem Benefizspiel mehr als 4000 Euro zusammenkamen für die Ukraine. 

Wir sollen den Schutzraum wechseln und gehen hinaus zum Wagen. Für Yulia Gribennikova war es das erste Mal im Bunker. Sonst sei sie in ihrer Wohnung geblieben. „Ich habe den Krieg wirklich satt.“ So geht es offenbar vielen in Tschornomorsk. Denn die Straßen sind voller Autos und Menschen. 

Derweil überwacht die ukrainische Luftabwehr den Himmel. Nach knapp dreißig Minuten heulen die Sirenen Entwarnung.