Warum wir sind, was wir sind

Wer Dir zeigte, wie Du die Wiener in den Mund schieben kannst.

Du weißt es nicht.

Woher das Grün kommt in Deinen Augen.

Du weißt es nicht.

Wer Dir ein Schlaflied sang.

Du weißt es nicht.

Jette ist zwei, als sich das Leben ihrer Mutter ändert. Als der ging, der es gewesen sein könnte. Das mit der Wiener, dem Grün und dem Schlaflied. Er ging oder er wurde gegangen. Sie weiß es nicht. Der eine sagt so. Der andere so.

Des einen Ende, des anderen Anfang

Klaus Zeisler ist Mitte 50, als er liest, was von wem gesagt wurde. Als er erfährt, warum sich sein Leben von einem auf den anderen Tag geändert hat. Dieser Tag begann mit Sonne und wurde sein Ende.

Ein Ende, das anderen ein Anfang war. Weil sie über Dinge sprachen, die sie nichts angingen. Oder sie so sehr angingen, dass sie sie besser für sich behalten hätten. Worte, die Freunde tauschen oder Liebende. Und nun: fließen Tränen. Tränen der Reue.

Ein Brief, der schweigt

IM “Thomas” weint. Und sieht man sie dabei zum ersten Mal, kommen einem die Tränen selbst. Beim zweiten Mal hört man ihr zu. Und die Wut erstickt die Tränen.

Jette wischt sich den Rotz von der Nase. Gut 30 Jahre danach. Holt aus der Familienkommode das Familienalbum. Den Brief an die Eltern, den er schrieb, als er ging. Oder gegangen wurde. Sie weiß es ja nicht.

Und das Schweigen ist groß.  Größer geworden, nachdem die Eltern, die den Brief noch im Kuvert aufbewahrten, auch gegangen sind. Zwei Grabsteine zeugen davon.

Wessen Tränen weinen wir

Auf einem weiteren steht: Norbert Vogel. Um den weint IM “Thomas”. Aber ihre Tränen kann er nicht mehr sehen. Vielleicht gehören sie nur ihr. Vielleicht sind es nur Tränen für sie selbst. Weil Angst und Schuldgefühle auch dazu rühren.

Woran erkennt man, wem die Tränen des anderen gehören. Woran erkannte Dieter Hempel, wer zu wem gehörte. Er fährt sich mit den langen Fingern durch das volle, dunkle Haar. Verbirgt seine Tränen in der Handfläche. Nur ein Schluchzen sickert zwischen den Fingern hindurch. 35 Jahre, nachdem sie ihn zu einer Unterschrift zwangen.

Sie finden, wen sie suchen

Unterschrieben ist der Brief an die Eltern auch. “Es grüßt Euch Euer Sohn … ” Er ist fünf Mal gefaltet. Er trägt keinen Datumsstempel, das Kuvert keine Marke. Er hat ihn selbst in den Briefkasten gesteckt. Damit sie ihn nicht finden.

Die, die IM “Thomas” und Dieter Hempel fanden. Die, die Klaus Zeislers Leben von der Sonne zum Ende führten. Sie versuchten, die Wurzeln zu kappen. Und oft genug gelang es ihnen auch. Der “Thomas”, der Hempel und der Zeisler – sie wissen nun, warum. Sie haben ihre Akten gelesen. In einer Außenstelle des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Haben ihre Leben in Berichten des Ministeriums für Staatssicherheit gefunden. Jette, sie sucht noch.

RadioFilmDossier

Fünf Jahre hat ein Journalist des NDR in diesen und vielen weiteren Akten gewühlt. Aus den geschwärzten Worten, aus den geschwärzten Bildern Menschen gemacht. Menschen, die die meisten 20 Jahre nach der Wende nicht sein wollen. Aber sie sind es.

“Als aus Sportlern Spitzel wurden” läuft am 6. Mai im Capitol in Schwerin anlässlich des 22. Filmkunstfestes. Ein OnlineDossier begleitet die NDR Dokumentation über “Das Stasi-Erbe des SC Neubrandenburg”. Und das RadioFeature gibt es zum Nachhören in einzelnen Episoden.

Stiehl’ mir die Zeit. Und Du wirst es bereuen.

Gern wird als Prokrastination bezeichnet, was sich hinterm ziellosen Anklicken von Seiten im Internet verbirgt. Der Blick auf SpOn, der Dich dann auf ein Video von Whitney Houstons “One Moment in Time” lockt, wobei Dir einfällt, dass Du den Song gehört hast, als Du mit Viola von und zu IchWeißNichMehr eine Ferienfreizeit am Gardasee verbracht hast. Ach, was die wohl macht, fragt die Erinnerung, und Deine Finger tippen ihren Namen in die GoogleSuchLeiste. Mh – Gardasee. Vielleicht blühen dort schon die Narzissen? Schau’ doch mal nach einem verlängerten Wochenende, ruft die Zukunft.

Und so geht es immer weiter. Wer erlebt das nicht. Aber es sind die eigenen Gedanken, die einen zu dieser Klickreise animieren. Es sind die eigenen Wünsche und Bedürfnisse, denen ich in diesem Moment nachgebe. Vielleicht auch wider besseres Wissen. Weil da der Stapel Arbeit liegt – die Gegenwart. Im Vergleich zur Erinnerung und zur Zukunft kommt sie über ein ersticktes Piepsen manchmal aber eben nicht hinaus. Du nimmst Dir die Zeit. Und das ist gut so.

Gar nicht gut, nein gar böse ist, wenn Dir Zeit gestohlen wird. Wenn Minuten verrinnen, in denen Du nur warten kannst. In denen Du abhängig davon bist, wie andere sich die Zeit einteilen.

Wenn Du beim Arzt sitzt. Mit Termin. Dann eine Dreiviertelstunde vergeht. Und noch immer zwei vor Dir sind.

Du gehst zur Schwester, verlangst Deine Chipkarte zurück. Und die Praxisgebühr. Auf das Warum und darauf, dass es doch nur 45 Minuten seien – bis jetzt – fällt Dir zunächst keine Antwort ein. Dabei war es genau diese Antwort, die Dich hat aufstehen lassen im Warteraum. “Heute ist mein erster Urlaubstag. Und ich bin nicht gewillt, den in Ihrer Praxis zu verbringen.”

Es ist noch nicht lange her, da machte im Netz ein Artikel über ein Buch die Runde, in dem Menschen befragt wurden, was aus ihrem Leben sie vor dem Tod bedauern. Zeit zu vergeuden, weil andere unfähig sind, ihre Zeit zu managen, zähle ich dazu.