Früher waren die Keller in Kleinliebental unterirdisch miteinander verbunden. Früher, als deutsche Siedler dort die ersten Häuser bauten. Eingeladen von Katharina, der Großen, in der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Die Verbindung zwischen den Kellern der Schmidts, Underbergs und Schlecks ist inzwischen längst gekappt; die heutigen Bewohner aber finden in den Räumen Schutz vor russischen Raketen.
Artëm Knysh ist Verwaltungschef des kleinen Dorfes, das inzwischen zu Tschornomorsk gehört. Eingesetzt vom dortigen Bürgermeister Vasyl Huliaev, versucht er seit gut zwei Jahren, die Entwicklung der ehemaligen Kolonie voranzutreiben. Ließ die Straßen erneuern, Laternen installieren. Auch wenn die derzeit dunkel bleiben.
Dort, wo einst Schlamm abgebaut und zu Heilzwecken eingesetzt wurde, soll ein Park entstehen, mit Barbecue-Platz und Fußballfeld, mit Bänken und Spielplätzen. „Сейчас не возможно.“ Zur Zeit unmöglich.
„Zur Zeit“ ist eines von vielen Synonymen für Krieg. Für Stillstand. Dafür, dass Menschen wie Artëm Knysh oder Vasyl Huliaev nur damit beschäftigt sind, Strom, Wärme, Sicherheit zu gewährleisten. Während Russland die Energieinfrastruktur und das Leben der Ukrainer zerbombt.
Nach Kleinliebental habe die Zarin die Deutschen geholt, weil sie so fleißig gewesen seien. So akkurat, erzählt Artëm. „Noch heute besuchen uns Deutsche auf der Suche nach ihren Vorfahren.“
Im Kulturhaus in Kleinliebental basteln Mädchen an ihrer eigenen Sicherheit. Aus Wollfäden entstehen kleine Puppen. Einst von den Frauen in der Ukraine aus trockenem Gras gefertigt, sind sie nicht nur Spielzeug; sie sollen Kinder auch vor bösen Mächten beschützen.
Sofias Puppe mit roten Beeren im schwarzen Haar soll die Schwester beschützen. Sie ist an der Front. „Das sind viele aus Tschornormorsk“, sagt Artëm, als wir die schmalen Straßen durch Kleinliebental fahren. „Und wir alle werden – jeder auf seine Art – die Ukraine verteidigen.“
Er zeigt auf ein Haus rechts von uns. „Der Mann, dem dieses Haus gehört, ist in Bahmut. Wissen Sie, wo das ist?“ Ich nicke. Eine kleine Stadt im Osten der Ukraine. Seit Wochen umkämpft. Satellitenaufnahmen zufolge so gut wie dem Erdboden gleich gemacht.
„Dabei hat man uns auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion noch eingebläut, dass der Feind im Westen sitzt. Dabei ist er direkt nebenan.“ Artëm schüttelt den Kopf.
„Für die Kinder ist es am schlimmsten. Stundenlang hocken sie bei Luftalarm im Keller“, sagt Olena Loboda, in der Stadtverwaltung von Tschornormorsk verantwortlich für innere Angelegenheiten. „Und sie lernen, zu hassen.“ Denn zuhause in Kleinliebental in der Ukraine hat Russlands Krieg vielleicht schon wieder einen von ihnen getötet.
Seo: Kleinliebental will nicht aufgeben
Google: In der ehemaligen deutschen Kolonie in Tschornomorsk schützen unterkellerte Häuser heute die Ukrainer.
Willkommen in Zeiten des Krieges
Sonntagvormittag. Die Generatoren aus Wismar sind umgeladen in den Lkw von Oleg aus Tschornomorsk. Rauf auf die Fähre, die den Grenzfluss Donau quert gen Ukraine. Ein Reporter steht neben einem Reisebus und macht einen Aufsager. Für die italienische Nachrichtenagentur Ansa, wie ein Aufdruck auf dem Mikrophon verrät.
Noch bevor die Fähre anlegt am anderen Ufer, zwängen sich Grenzpolizisten durch die dicht an dicht stehenden Autos, Busse und Lkw. Vor dem ukrainischen Zoll Stau. „In Kyiv ist Stromausfall. Sie können keine Datenverbindung herstellen und deshalb die Pässe nicht einlesen“, sagt Yulia.
Yulia hat für die Stadtverwaltung in Tschornomorsk gearbeitet, bis ihr Onkel Vasyl Huliaev Bürgermeister wurde. „Das hatte dann irgendwie einen Beigeschmack.“ Nun will sie sich einen Job in Odesa suchen. Hilft Huliaev aber beispielsweise bei Übersetzungen ins Englische oder beim Abholen deutscher Journalisten.
Wir sitzen im Wagen und erzählen. Der Stromausfall sei mit das Schlimmste an diesem Krieg. Ein Krieg, den niemand wirklich erwartet habe in der Ukraine. „Hey – wir sind im 21. Jahrhundert. Krieg? Wer glaubt da an einen solchen Krieg?!“
Ein solcher Krieg. Der mehr als fünf Millionen Ukrainer zu Flüchtenden gemacht hat. Der laut Hochkommissariat für Menschenrechte der Vereinten Nationen inzwischen mehr als 7000 Menschen in der Zivilbevölkerung getötet hat, darunter mehr als 430 Kinder.
Ein Krieg, der auch für Dunkelheit sorgt in der Ukraine. „Du planst Deinen Alltag nach den zwei Stunden, in denen Elektrizität da ist. Waschmaschine, Kochen – fast alles eben. Und draußen – draußen ist alles dunkel, einfach nur dunkel. Das kann sich niemand vorstellen, der es nicht erlebt.“
Knapp zwei Stunden später stehen wir noch immer vor dem Häuschen, in dem die Pässe kontrolliert werden. „Kaffee?“ Yulia steigt aus und will welchen besorgen. Kehrt jedoch gleich wieder zurück. Auch für Kaffee brauchen wir einen Pass. Denn den gibt es hinter dem offiziellen Grenzübergang. Unsere Pässe aber liegen noch bei den Grenzbeamten.
Zwischendurch startet Wowa immer mal wieder den Motor für ein paar Minuten. Es wird frisch im Wagen. Handyakkus laden. Aus den Lautsprechern wechselt die Musik zwischen englischem Pop der Cranberrys, französischen Chansons von Joe Dassin und Synthi-Pop von Laskowy Mai.
Draußen im Wind steht ein Mann Ende 50. „Das dauert vielleicht noch zwei weitere Stunden“, sagt er. Aus Odesa sei er, arbeite als Chefingenieur auf der Werft in Tschornomorsk. „Was ist nun!? Wann geht es weiter“, ruft er einer Zöllnerin zu. „Не знаю.“ „Ich weiß es nicht“, antwortet sie.
„Ooooooh!“ Am Pass-Häuschen kommt Bewegung in die Gruppe von Männern. Die Internetverbindung zwischen Kyiv und dem Grenzübergang an der Donau ist wieder hergestellt. Wowa steigt aus dem Wagen, will unsere Dokumente direkt dort abholen.
Fünf Stunden später kommen wir in Tschornomorsk an. Kontrolliert an etlichen Checkpoints von ukrainischen Militärs. Mit Interesse am deutschen Pass. „От куда?“ Woher aus Deutschland, wollen sie wissen. „Из Висмар.“ Aus Wismar.
Vorbei an Dörfern, in denen Fensterscheiben mit Alufolie isoliert sind und die nur von den dortigen Tankstellen erhellt werden. Vorbei an unzähligen Lkw, überholt im Nebel der Schwarzmeerküste. Irgendwann werden die Dörfer größer, die Straßen breiter. Das Dunkel bleibt.
Wowa, der Fahrer vom Bürgermeister aus Tschornomorsk, verpasst fast die Abfahrt in die Stadt. Passanten werden erst unmittelbar vor dem Scheinwerfer sichtbar. Yulia zeigt im Vorbeifahren auf den Tennisclub, das Rathaus, den Strand.
Die Augen erblicken nichts als stockfinstere Nacht. „Ach, und bitte denke daran: Von 23 bis 5 Uhr ist es verboten, draußen zu sein.“ Ausgangssperre in Zeiten des Krieges. Willkommen in der Ukraine. Willkommen in Tschornomorsk.
Müde und genervt nach elf Monaten Kriegsalltag
„No light – no coffee“, heißt es bei der Rückkehr ins Hotel am Montagmorgen. Zu sieben Uhr waren wir mit Vasyl Huliaev verabredet am Strand von Tschornomorsk.
Seegras hat sich dort breit gemacht, seitdem niemand mehr unterhalb der steinernen Promenade flanieren darf. Seit dem 24. Februar 2022. Seitdem Russland die Ukraine angegriffen hat und die Gefahr besteht, dass die von den Russen gelegten Seeminen an Land gespült werden und explodieren.
Dort, erzählt Yulia, die uns an diesem Morgen begleitet, hätten die russischen Kriegsschiffe gelegen. „Wir konnten sie sehen. Und niemand wusste, ob sie uns angreifen.“ Mitte April hatte die Ukraine dann unter anderem den Kreuzer „Moskwa“ mit zwei Raketen getroffen und die russische Flotte vor der Küste in Tschornomorsk zunächst vertrieben.
Der Krieg aber ist dort lebendig. Sandsäcke liegen auf der Treppe zum wohl meist fotografierten Aussichtspunkt von Tschornomorsk. Anders als in Wismar sollen sie dort nicht vor Hochwasser schützen, sondern vor feindlichem Beschuss.
Panzersperren und Stacheldraht liegen im Sand. Es verboten, das zu fotografieren. So wie alle anderen militärischen Einrichtungen auch. Das Einberufungsbüro der ukrainischen Armee im Zentrum der Stadt beispielsweise.
Volodymyr Selensky hat unterdessen die nächste Welle der Mobilisierung angekündigt. Huliaevs Assistent scrollt auf dem Handydisplay. Männer zwischen 27 und 60 Jahren werden einberufen. „Sie gehen durch die Stadt und nehmen die Männer mit“, sagt Yulia.
Auf den Straßen in Tschornomorsk bleiben die Frauen zurück. Die Mütter, die Großmütter und deren Männer. Die Frau Anfang 50 mit den rot geweinten Augen, die Frau Anfang 20, die noch kämpft mit den Tränen.
Schwer gehen die Menschen über den „проспект мир“, die Straße des Friedens, die Hauptstraße ist in der Stadt am Schwarzen Meer. Müde von der Ungewissheit des Morgen. Müde von der Angst vor russischen Raketen. „Укриття“ – Schutzbunker. Neben fast jedem Hausaufgang aufgemalt mit roter Farbe.
„Wir leben zwar unseren Alltag. Ohne Strom. Ohne Heizung. Aber nicht zu wissen, was noch kommt, zermürbt die Menschen“, sagt Yulia. Tschornomorsk blieb bislang ohne Raketeneinschlag.
Festgekrallt
Es sollte der erste Törn werden. Auf Erika, der Großen. Wismar-Kiel. Allein.
An einem Tag auf knapp 8 Metern nicht zu schaffen. Zumal das Toplicht fehlt und die Positionslampen original, vom Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie nicht mehr zugelassen sind.
Also in Etappen. In dreien. Montag los. Mittwoch ankommen. So der Plan.
Die 25.6 Seemeilen von Wismar nach Grömitz hätten mich beinahe die Pütz gekostet. Am Ende war es nur ein Stück Fleisch am Zeigefinger der rechten Hand. Wächst nach.
5 Stunden und 53 Minuten hat der Tracker aufgezeichnet. Wenige waren unterwegs vor der Küste Mecklenburg-Vorpommerns. Die Sonne schien. Am Strand von Grömitz die ukrainische Flagge. Spaziergänger auf der Promenade. Im Sand und in den Strandkörben die letzten Sommerurlauber. Ein paar Scheiben frischen Roggenbrots für die Etappe am nächsten Tag.
Festgemacht längsseits an der Südmole und das Anlegen in der Pfahlbox erspart. Ohnehin war alles dicht. Vor Erika geht eine Yacht längsseits. Eine nächste packt sich sich am Abend ins Päckchen. Wenn der Wind stimmt, bleibt am Morgen die Heckleine belegt, treibt er Erikas Bug am Heck der Yachten vorbei.
Kurz vor sechs wird aus der Theorie Praxis. Klaus-Herbert tuckert uns durch den Hafen. Fender einholen. Leinen klarieren. Da wartet schon die Neustädter Bucht mit ordentlich Schwell von vorn. Klaus-Herbert, der Kurzschafter, motort mehr in der Luft als im Wasser. Also schnell die Segel hoch.
Das Groß steht. Ein Piuong hallt durch den jungen Tag. Der Segelhals und der Baum sind ohne Verbindung. Also Segel wieder runter. Im Schwell. Ohne nennenswerte Fahrt nach vorn. Grömitz-Mole, sei gegrüßt.
Nun aber zackig das Vorsegel hoch. So kommen wir weg und voran. In der Welle aber wenig kommod. Ersatz für den weggeflogenen Schäkel suchen. Ein Dynemabändsel tut es auch.
Groß setzen. Und mit sechs Knoten entlang Kellenhusen, Damp und Großenbrode gen Fehmarnsund. Die Brücke ist weithin sichtbar. Schweigen bietet sich an. In Erinnerung an den freudigen Ausruf beim Anblick der Brücke auf dem Überführungstörn vor anderthalb Jahren von Flensburg nach Wismar.
Noch vor der Brücke das Groß wieder runter. Unter Fock nur unten durch und dann nach Backbord in Richtung Ansteuerung Heiligenhafen. Auf einem eigenem Kiel dort festgemacht, wo uns im Mai 2021 die Seenotretter des Nachts in Sicherheit brachten.
Der Hafenmeister ist ein anderer. Schiff und Crew genießen unerkannt den Sommernachmittag. Früh geht es nach einer Mischung aus Reis und Thunfisch und einem Spaziergang durch Heiligenhafen in die Koje. Die längste Etappe steht bevor.
Gut 41 Seemeilen. Wind in Stärke 4, in Böen 5. Eine See von einem Meter und mehr. Einen Freund gefragt nach dem Segelkleid. Die Fock reicht, waren wir uns einig. 4 Knoten Durchschnittsgeschwindigkeit aber sollten es schon sein, um nicht in der Dämmerung die Kieler Förde runterzumüssen.
4:54 Uhr klingelt der Wecker. Dunkel ist es noch. Kaffee. Schiff vorbereiten. Ein Mal durchatmen vor dem Spiegel. Leinen los. Am Ende der Ausfahrt von Heiligenhafen schiebt sich die Sonne hinter der Fehmarnsundbrücke aus dem Meer. Foto machen. Der kleinen Schwester schicken. Zum Geburtstag. Einem runden. Der Grund für dieses Abenteuer.
Null Fahrt im Schiff. Aufgelaufen auf fünf Metern. Bei 1.20 Meter Tiefgang. Fock dicht. Fock auf. Wir drehen uns auf der Stelle. Nee, wa. So wird das nichts mit den gut 41 Seemeilen. So nicht.
Klaus-Herbert wühlt sich mit seinen vier PS unter Vollgas durchs Wasser. Wir kommen frei. Ich danke ihm ein weiteres Mal. Kiel, wir kommen.
Unter Fock laufen wir im Fehmarnsund gerade einmal zweieinhalb Knoten. Also Groß setzen. Fahrt aufnehmen. Meilen machen.
Die Warngebiete Putlos und Todenhof sind also zu umfahren. Sie schießen in die Ostsee, die Frauen und Männer von der Bundeswehr. Zwischen 9 und 20 Uhr. Eine Fregatte der Marine hält Unvorsichtige von den dumpfen Einschlägen fern.
Alle anderen müssen deshalb erst einmal weit nach Nordwesten. Immer an den Gefahrentonnen längs. Den Umweg so gering wie möglich halten. Das Wachschiff immer parallel auf Kurs.
Der Wind frischt auf wie vorhergesagt. Die Wellen schräg von achtern. Die Fock schlägt im Seegang. Also runter damit. Vor dem Wind mit dicht geholten Schoten rutscht das Vorsegel auf den Bug. Es ist 09 Uhr 08.
Großschot fieren, im Entengang nach vorn auf den Bug. Zwei Bändsel in der Hand zum Sichern der Fock. Das Fall vergessen, mit anzubinden. Noch mal lose machen.
Wasser. Wasser läuft in die Stiefel. Die Hose nass. Der Pullover. Ein ungläubiger Blick auf den Bug. Zugreifen. Festhalten. Festkrallen.
Die Stiefel füllen sich. Die Schwimmweste geht nicht auf. Die Marine. Ist da noch irgendwer. Um Hilfe rufen. Energieverschwendung. Sammeln. Fokussieren. An Bord. Irgendwie zurück aufs Schiff.
Das rechte Bein mit einer Welle aufs Deck schwingen. Abrutschen mit dem Stiefel. Ein Versuch noch. Einer. Konzentrieren. Augen zu. Welle abwarten.
Das Bein ist oben. Verkeilt hinter der Bugklampe. Das andere hindurchgeschoben, hängen beide Beine nun an Deck. Der Oberkörper fehlt. Hochziehen. Eindrehen an Deck. Auf dem Bug liegen.
Die Wellen lassen keine Zeit zum Nachdenken. Zurück ins Cockpit. Schiff auf Kurs bringen. Ein Schrei. Stiefel auskippen. Eine Zigarette. Dreiviertel der Strecke noch bis Kiel.
Das Wetter verbietet jeden Gedanken an Was-wäre-wenn. Nach dem Festmachen in Kiel-Wik laufen die Tränen, schüttelt es den längst getrockneten Körper: Mann über Bord. Da war niemand, um diesen Notruf abzusetzen.
Ein Schiff, drei Mädels und ein Hafen mit W, Teil II. Oder: Wie wir versuchten, Klaus-Herbert zum Crewmitglied zu machen
Wackerballig. Freitag vor Pfingsten. Kurz nach 8 Uhr am Morgen reißen wir den
Außenborder an. Ungläubiges Staunen. Er läuft. Manövrieren uns aus der Box,
verlassen den kleinen Hafen nördlich Gelting, der Erika in den vergangenen Wochen
ein Zuhause war. Ein Stündchen nordwärts auf achterlichem Wind. Dann Fehmarn
anlegen. Festmachen nach 12 Stunden bei der Schaich-Werft. So der Plan.
Wir passieren den Leuchtturm Kalkgrund, ostwärts von nun an in leiser
Rauschefahrt. Die Kapuzen über den Ohren. Die Schultern hochgezogen. Wer kann,
sucht Schutz hinter der Sprayhood. Es ist frisch Ende Mai auf der Ostsee. Südwind.
Wie vorhergesagt. Tatsächlich.
Dann dreht der Wind auf Südost. Die Wanten in Lee schlackern. „Karo? – Ja. Sehe
ich auch.“ Karo übernimmt die Pinne. An den Wanten ist alles fest. Splinte und
Bolzen sind da, wo sie hingehören. Dennoch: Wir schreiben eine sms an Dirk,
den Voreigner. Muss so. Is gut so. Weiter geht‘s.
Wir testen das Bordklo, wahlweise die Pütz. Ausziehen mag sich eigentlich
niemand. Die Sonne wärmt nur minutenlang. Bewölkt ist der Himmel, der Wind kalt.
Auch wenn er nachlässt. Bagenkop in Dänemark liegt an Backbord voraus. Dorthin?
Nach Kiel kreuzen? Oder weiter gen Fehmarn? Nach einem Blick auf die Karte und
kurzem Austausch halten wir den Kurs gen Insel.
Nur langsam nähern wir uns dem Kiel-Ostsee-Weg. Die Wolken werden dichter von
Süden her. Die Küstenlinie Schleswig-Holsteins: ein einziges Schwarz.
Donnergrollen. Blitze. Löst sich der Spaß da unten noch auf oder zieht das in seiner
gesamten Mächtigkeit über die See nach Dänemark?
Zwanzig Minuten etwa beobachten wir. Dann nehmen wir das Groß runter. Und sind
die nächsten 40 Minuten still im Angesicht dessen, was da näher und näher kommt.
Foto machen? Nee. Fordern wir das Wetter besser nicht heraus. „Mädels. Wir haben
nur noch die Fock. Wir versuchen, den Kurs zu halten. Wird uns das zu bunt, laufen
wir vor der Front ab.“ Freien Seeraum haben wir zu genüge.
An Steuerbord knallen die Blitze wie Peitschenhiebe aufs Wasser. In den Wolken
ein Poltern, tief wie der tiefste Bass. „Mädels. Es geht los.“
Mit sechs, mitunter sieben Knoten pfeifen wir unter Fock bei erstaunlich
gleichmäßigem Wind Stärke sieben durch den Wasserdunst. Ja. Müsste nicht sein,
so eine Gewitterfront von Kilometern Länge. Andererseits kommen wir voran. Denn
Fehmarn ist noch weit.
„Ein Frachter an Steuerbord!“ Karo entdeckt ihn als erste. Kann das schon der Kiel-
Ostsee-Weg sein?! Unwahrscheinlich. Das Schiff der Colorline aber dürfte uns bei
dem Wetter nicht gesehen haben. Wir fallen ab und gehen hinter dessen Heck
durch. Vom Kragen läuft der Regen den Rücken hinunter.
Eine gute Dreiviertelstunde schießen wir so über die Ostsee. Bis der Wind nachlässt
und dreht, als sei ihm schwindlig vom Tanz über der See.
Trocken sind wir noch nicht, als die nächste Schauerfront aufzieht. Egal. Mit dem
Regen kommt der Wind, sind wir uns einig. So langsam sitzt uns der herannahende
Abend im Genick. Den Kiel-Ostsee-Weg passieren wir mit dem Regenwind recht
flott. Zwei Frachter nur sind da am Pfingstfreitag unterwegs.
„Fehmarnsundbrücke! Ich sehe die Fehmarnsundbrücke! Yeeeeeeeheeeeees!“ Er
befreit, dieser Schrei. Wir kämpfen uns an Flüggesand heran. Der Wind hat deutlich
abgenommen. Gedreht fast auf SüdsüdOst. Wir versuchen, den Außenborder zu
starten. Ein Mal. Vier Mal. Zwölf Mal. …
Dann wirft der Leuchtturm Flüggesand das erste Licht des Abends auf die See. Die
Dünung steht noch. Der Wind ist gegangen. Wir schaukeln zurück gen Kiel-Ostsee-
Weg. Mitten im Warngebiet Todenhof. Schießzeiten freitags: 9 bis 12.30 Uhr.
„Ich spendiere eine Runde DGzRS.“ Nahezu gelassen spricht Meike diese großen
Worte. Wir hadern noch. Ein Seenotfall sind wir nun vielleicht nicht gerade. Wir
überlegen: Genau das werden wir den Männern sagen. Karo hat die Nummer. Und
niemand von uns Handynetz.
Irgendwann schildern wir der Zentrale unsere Situation. Es ist kurz vor 22 Uhr. Die
Retter sollen aus Heiligenhafen kommen. Wir geben unsere Koordinaten durch.
Eine halbe Stunde später leuchtet neben Flüggesand ein Suchscheinwerfer. Wir
atmen durch. Null Fahrt im Schiff. Noch immer treibend gen Kiel-Ostsee-Weg.
Frachter in Sicht. Wir leuchten die Segel an mit Stirnlampe und Taschenlampe. Die
Retter drehen ab.
Die Zentrale ruft an. Sie finden uns nicht.
Eine halbe Stunde vor Mitternacht ist das Schleppseil auf der Bugklampe belegt.
Eisig ist es mittlerweile. Der Wind dreht weiter östlich und auf. Aus dem
Fehmarnsund schlagen uns die Wellen entgegen. Jede zweite eine Dusche. Mit
sechs Knoten geht es im Schlepp voran. Karo schreibt unterdessen unter Deck mit
den Rettern. Dann geht das Schiebeluk auf. „Noch anderthalb Stunden bis
Heiligenhafen.“
Nein. Nein, denke ich. Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr.
Beides keine Alternative. Also weiter. Der letzte heiße Tee ist alle. Whiskey. Der
Flachmann, der dank Britta bereits in Flensburg an Bord gekommen war. Ich würge
ein Schlückchen davon hinunter. Irgendwas ist danach anders. Besser.
Halb zwei Uhr morgens bugsieren uns die Retter in eine freie Box. Kommen an
Bord. Helfen bei den Leinen. Geben uns den Code für die Sanitäranlagen im
Yachtclub Heiligenhafen. Wir sammeln alles Bargeld zusammen. Danken. Danken.
Danken.
Viele Worte machen wir nicht mehr bei Bier und Zigarette im Cockpit. Der Tag
kommt auf, und wir fallen in die Koje. Samstagmorgen 03:28 Uhr.
Die Sonne weckt. Südwind drehend, Stärke sechs, in Böen mehr. Hafentag. Ölzeug,
Unterwäsche, Seestiefel – alles raus zum Trocknen. Karo holt Brötchen, macht
Rührei.
Irgendwann dann die Frage nach dem was nun. Wir legen die Antwort noch
beiseite. Erst einmal sortieren. Gedanken. Gefühle.
Wir machen Heiligenhafen unsicher. Landen bei einem Italiener auf der Terrasse.
Lachen. Erzählen. Knöpfen uns Klaus-Herbert vor. Wir haben nicht lange gebraucht,
um unserem Außenborder einen Namen zu geben bei Pizza und Bier. Jenem
Außenborder, den wir im Hafen ankriegen, auf See nicht. Und dann kriegen wir ihn
auf See auch kaum mehr raus aus der See. Im Sitzen. Mit den Beinen außenbords
und den Füßen in der Welle. Ein Problem, das wir in Heiligenhafen nicht lösen
können werden. Also: Bleiben oder am nächsten Tag nach Wismar. Dort könnten wir
unter Segel anlegen. Dort könnten wir anrufen. Nils. Jelke. Michael.
Wackerballig-Heiligenhafen hat Kraft gekostet. Klaus-Herbert anzureißen, gelingt
nicht am Sonntagvormittag. Freundlich blickende Männer vor dem Clubgebäude,
ein kurzer Wortwechsel, Klaus-Herbert läuft.
Wind in Stärke 5/6 treibt uns aus der Box. Klaus-Herbert muckt. Karo und Meike
halten uns klar. Wir gehen zurück in die Box. „Mit diesem Motor fahre ich nirgendwo
mehr hin. Ich bin raus.“ Meike sagt diesen Satz. Dann erst mal Schweigen. Wir sind
durch. Alle drei. Meike geht an Land.
Wir suchen derweil die Nummer vom Hafenmeister. Brauchen eine andere freie Box
für die nächsten Wochen. Überlegen, wie wir von Heiligenhafen nach Wismar
kommen. Die Autos stehen in Wackerballig. „Ich habe eine Entscheidung getroffen.
Ich gebe mein Leben in Eure Hände und übernehme keine Verantwortung für
nichts.“ Meike ruft das vom Steg. Ok. Dann los jetzt. Es ist kurz nach halb zwölf.
Klaus-Herbert lässt sich von uns starten, sauber raus aus der Box, Fock setzen.
Draußen knallt der Südwest über den Fehrmarnsund. Anderthalb Meter Welle.
Erika, die Große, schießt mit sechs, sieben Knoten durch die Fahrrinne, der
Fehmarnsundbrücke entgegen. Sonnenschein. Läuft.
Querab von Großenbrode legen wir den Kurs dichter unter Land. Weniger Welle.
Und ein Streifen Sonne. Merklich kühler ist es geworden. Und Meile um Meile
weniger Wind. Groß hoch. Vier, fünf Knoten sind nun wieder drin. Vor der Lübecker
Bucht Leichtwind statt Düse.
Klaus-Herbert hat unterdessen den Kopf hängen lassen. Ihn nach unten
anzureißen: unmöglich. Regen in Sicht. Wind in den Segeln. Die Hochhäuser von
Burg auf Fehmarn werden kleiner. „Die Egger-Schornsteine! Ich sehe die Egger-
Schornsteine!“ Karo schimpft. „Nichts da! Du siehst gar nichts! Als Du das letzte
Mal was gesehen hast, war das die Fehmarnsundbrücke!“ Wir lachen. Und sehen
nichts mehr.
Vom Klützer Winkel zieht eine Schauerfront auf. Gut. Denn wir brauchen den Wind.
Mit sieben Knoten geht es durch Offen-Tief. Ein Tonnenpaar, das uns den Weg weist
in die Wismarbucht. Vorbei an Untiefen. Jetzt erlauben wir uns, zu sehen. Egger-
Schornsteine. Werftkran. St. Marien. Walfisch. Seebrücke Wendorf. Schwedenkopf.
Hafenspeicher. Menschen. Groß runter auf der Wendeplatte. Unter Fock sanft
hinein ins Hafenbecken. 14 Meter vor dem Steg holen Meike und Karo die Paddel
raus und geben uns die letzte nötige Fahrt. Wismar? Wismar.