Spätsommer im Krieg: Mit dem Bus nach Odesa

Der erste Kaffee. Kurz hinter der Grenze in der Oblast Lwiw. Ohne Milch. Und ohne Zucker. Gut so, lobt die Frau hinter dem Tresen. Ein richtiger Kaffee. 

Frischer Teer liegt auf der Straße nach Iwano Frankivsk. In den Niederungen zerstiebt der Morgennebel dieses Spätsommers. Im Bus überwiegend junge Frauen. Die ersten Anrufe zuhause. Auf Russisch. Auf Ukrainisch. Zurück im heimischen Mobilfunknetz. Am Horizont die die Hügel des Dnister-Tals. 

13 Grad Celsius zeigt das digitale Thermometer im Bus. Bis zu 26 sollen es werden. In Odesa am Schwarzen Meer. Noch gut zehn Stunden zu fahren. 

Doch bis dahin werden die Menschen die ersten Kürbisse auf die Bank legen vor ihrem Haus zum Verkauf, werden an den Bushaltestellen der Dörfer warten, eine Kuh an einem Strick über die Straße führen. Sie werden einen Teppich ausklopfen auf dem Hof, auf ihren kleinen Feldern ernten und Furchen ziehen.

Die Felder – die großen wie die kleinen – erzählen, wer weg ist und wer geblieben. So wie die Friedhöfe in den Dörfern und Städten, auf denen die ukrainische Flagge weht über dem Grab eines Soldaten. Eines Vaters. Einer Tochter. Eines Bruders. Cousins. Einer Ehefrau. 

Und einer Daunendecke gleich, legen sich Wolken über die satte Erde. Wie kann aus einem solchen Himmel so viel Tod herabfallen. 

Stop am Bahnhof in Khmelnytskyi. Luftalarm. An diesem Vormittag fast in der gesamten Ukraine. Woher wir kommen, will eine junge Frau wissen. „Deutschland. – Ah! Und was machen Sie hier? Hoffentlich bleiben Sie sicher.“

Sie sei vor mehr als einem Jahr aus Mykolaiv geflohen. Bomben seien da jeden Tag gefallen. „Jeden Tag!“ Nun lebe sie in Holland. In Amsterdam. 45 Stunden Busfahrt sind es von dort. „Ich will meine Eltern endlich wiedersehen!“

Rund um die Städte lassen gesperrte Zufahrten und Panzersperren die Verteidigungsstellungen der ukrainischen Armee erahnen. Verdrängen kann den russischen Angriffskrieg auf dieser Busfahrt quer durch das Land nur, wer es schafft, nicht aus dem Fenster zu sehen. 

Auf der letzten Etappe gen Süden – auf einer Autobahn – ist es leerer als auf der A20 während des Lockdowns. Gedenk- statt Werbetafeln für die gefallenen Soldaten an den Straßen, Kränze an den Mahnmalen, militärische Checkpoints – es ist Tag 570 von Wladimir Putins dreitägiger „militärischer Spezialoperation“. 

Abends am Strand von Odessa. Musik und feiernde Menschen. Spaziergänger. Menschen, die ihre Füße kühlen im Schwarzen Meer. Dann wird es Zeit für den Heimweg. Ausgangssperre von 23 Uhr abends bis 5 Uhr morgens. 

Auch wenn Russland laut ukrainischer Armee seine Schiffe aus dem Schwarzen Meer abgezogen und in die See von Azov verlegt haben soll. Jedenfalls die, die von der russischen Schwarzmeerflotte noch übrig sind nach den erfolgreichen Drohnenangriffen der vergangenen Tage und Wochen. 

Eine Frau mit zwei Jungen fragt uns im Dunkel eines Parks nach dem Weg. Die blauen Punkte auf der digitalen Karte weisen die Richtung. Im Hof des Hotels wird noch gefeiert. Familie, Freunde sitzen beieinander. Essen. Trinken. Shisha rauchen. „Gibt es noch ein Bier trotz der Ausgangssperre? – Конечно!“, sagt Sasha. Natürlich. 

Die Nacht wird kurz. Der erste Alarm dröhnt kurz nach 3 Uhr über der Stadt. Aber nicht bis in die Träume. Der zweite weckt 4:57 Uhr. Nach und nach färbt sich die Ukraine auf der digitalen Alarmkarte von Ost nach West komplett rot. Und draußen in der Altstadt von Odesa sammelt eine Kehrmaschine den Müll des Vortages ein.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert