Von den Spielchen des Herrn Pastörs

Eine Frau im leichten Sommerkleid. Ein Mann mit weißem Haarkranz und in Lederhose. Sie stehen mit zwei Dutzend anderer Leute auf der Freitreppe des Gerichtsgebäudes am Schweriner Demmlerplatz. In einer Stunde soll der Prozess gegen Udo Pastörs beginnen. Die Staatsanwaltschaft hat ihn angeklagt. Wegen Verleumdung und Verunglimpfung Verstorbener.

Ende Januar 2010 stand der Fraktionsvorsitzende der NPD im Landtag Mecklenburg-Vorpommerns am Rednerpult. Das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus’ nahm er zum Anlass, den Abgeordneten zu erklären, wie er das sehe.

Brav gescheitelt

Pastörs sprach von “Schuldkult” und von “Betroffenheitstheater”. Und sagte einiges mehr, das hier dokumentiert ist. Die Fraktion der Linken stellte daraufhin Strafanzeige. Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage beim zuständigen Amtsgericht. Das wiederum ließ die Anklage zu. Und nun wird verhandelt.

Doch in Saal 7 ist zu wenig Platz. Das rügt dann auch Verteidiger Michael Andrejewski (NPD). Nur ein kleiner Teil der Anhänger sitzt deshalb nach dem Gang durch die Sicherheitsschleuse auf den schwarzen Stühlen in Reihe quer zu Anklagebank und Staatsanwaltschaft. Der Mann in Lederhose und die Frau im Sommerkleid auch. Zwischen ihnen ein etwa elfjähriger Junge. Braver Scheitel. Sauberer Fasson.

Einer für die Seinen

Die anderen müssen draußen bleiben. Doch sie werden warten. Pastörs hat ihnen versprochen, dass sie nichts verpassen werden.

Und so geht er denn in den Verhandlungspausen, in denen das Gericht darüber entscheidet, ob dem Antrag der Verteidigung auf Vertagung der Verhandlung stattgegeben wird, hinaus auf den Flur zu den Seinen und erklärt, dass der Staatsanwalt eben jenen diesen Antrag bereits abgelehnt habe. Dass es den nicht einmal interessiere und der einfach so weiter mache.

Nun soll sie ihn schützen – die Demokratie

Dann warnt der Juwelier und Uhrmacher vor den Medien. Auch die sind zuhauf erschienen. Sie seien alle nicht objektiv. Pastors zeigt mit dem Finger auf eine Frau. Die sei auch von den Medien. “Richtige Schmierfinken sind darunter.” Das sei bei ihm Zuhause auch so, sagt der Mann in Lederhose auf Bayerisch. Wo er denn genau Zuhause sei, will die Reporterin wissen. Ein geringschätziges Lächeln und Schweigen sind die Antwort.

Später wird er eine Erklärung verlesen. Darin beruft er sich auf seinen Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung durch die Immunität des Deutschen Bundestages. Er gehöre schließlich noch immer der 15. Bundesversammlung an. Die Wahl Joachim Gaucks zum Bundespräsidenten – die sei wegen schwerwiegender Fehler ungültig. Pastörs klagt deshalb derzeit vor dem Bundesverfassungsgericht.

Der Prozess wird am ersten Verhandlungstag nur knapp eine Stunde dauern. Und draußen haben sich die Seinen vermehrt. Und das “Spielchen” der Justiz, die in Gestalt des Staatsanwaltes den billigen Versuch unternehme, die Arbeit der Politik zu erledigen, ist vorerst auch vorbei. Zum Glück.

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Warum wir sind, was wir sind

Wer Dir zeigte, wie Du die Wiener in den Mund schieben kannst.

Du weißt es nicht.

Woher das Grün kommt in Deinen Augen.

Du weißt es nicht.

Wer Dir ein Schlaflied sang.

Du weißt es nicht.

Jette ist zwei, als sich das Leben ihrer Mutter ändert. Als der ging, der es gewesen sein könnte. Das mit der Wiener, dem Grün und dem Schlaflied. Er ging oder er wurde gegangen. Sie weiß es nicht. Der eine sagt so. Der andere so.

Des einen Ende, des anderen Anfang

Klaus Zeisler ist Mitte 50, als er liest, was von wem gesagt wurde. Als er erfährt, warum sich sein Leben von einem auf den anderen Tag geändert hat. Dieser Tag begann mit Sonne und wurde sein Ende.

Ein Ende, das anderen ein Anfang war. Weil sie über Dinge sprachen, die sie nichts angingen. Oder sie so sehr angingen, dass sie sie besser für sich behalten hätten. Worte, die Freunde tauschen oder Liebende. Und nun: fließen Tränen. Tränen der Reue.

Ein Brief, der schweigt

IM “Thomas” weint. Und sieht man sie dabei zum ersten Mal, kommen einem die Tränen selbst. Beim zweiten Mal hört man ihr zu. Und die Wut erstickt die Tränen.

Jette wischt sich den Rotz von der Nase. Gut 30 Jahre danach. Holt aus der Familienkommode das Familienalbum. Den Brief an die Eltern, den er schrieb, als er ging. Oder gegangen wurde. Sie weiß es ja nicht.

Und das Schweigen ist groß.  Größer geworden, nachdem die Eltern, die den Brief noch im Kuvert aufbewahrten, auch gegangen sind. Zwei Grabsteine zeugen davon.

Wessen Tränen weinen wir

Auf einem weiteren steht: Norbert Vogel. Um den weint IM “Thomas”. Aber ihre Tränen kann er nicht mehr sehen. Vielleicht gehören sie nur ihr. Vielleicht sind es nur Tränen für sie selbst. Weil Angst und Schuldgefühle auch dazu rühren.

Woran erkennt man, wem die Tränen des anderen gehören. Woran erkannte Dieter Hempel, wer zu wem gehörte. Er fährt sich mit den langen Fingern durch das volle, dunkle Haar. Verbirgt seine Tränen in der Handfläche. Nur ein Schluchzen sickert zwischen den Fingern hindurch. 35 Jahre, nachdem sie ihn zu einer Unterschrift zwangen.

Sie finden, wen sie suchen

Unterschrieben ist der Brief an die Eltern auch. “Es grüßt Euch Euer Sohn … ” Er ist fünf Mal gefaltet. Er trägt keinen Datumsstempel, das Kuvert keine Marke. Er hat ihn selbst in den Briefkasten gesteckt. Damit sie ihn nicht finden.

Die, die IM “Thomas” und Dieter Hempel fanden. Die, die Klaus Zeislers Leben von der Sonne zum Ende führten. Sie versuchten, die Wurzeln zu kappen. Und oft genug gelang es ihnen auch. Der “Thomas”, der Hempel und der Zeisler – sie wissen nun, warum. Sie haben ihre Akten gelesen. In einer Außenstelle des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Haben ihre Leben in Berichten des Ministeriums für Staatssicherheit gefunden. Jette, sie sucht noch.

RadioFilmDossier

Fünf Jahre hat ein Journalist des NDR in diesen und vielen weiteren Akten gewühlt. Aus den geschwärzten Worten, aus den geschwärzten Bildern Menschen gemacht. Menschen, die die meisten 20 Jahre nach der Wende nicht sein wollen. Aber sie sind es.

“Als aus Sportlern Spitzel wurden” läuft am 6. Mai im Capitol in Schwerin anlässlich des 22. Filmkunstfestes. Ein OnlineDossier begleitet die NDR Dokumentation über “Das Stasi-Erbe des SC Neubrandenburg”. Und das RadioFeature gibt es zum Nachhören in einzelnen Episoden.

Stiehl’ mir die Zeit. Und Du wirst es bereuen.

Gern wird als Prokrastination bezeichnet, was sich hinterm ziellosen Anklicken von Seiten im Internet verbirgt. Der Blick auf SpOn, der Dich dann auf ein Video von Whitney Houstons “One Moment in Time” lockt, wobei Dir einfällt, dass Du den Song gehört hast, als Du mit Viola von und zu IchWeißNichMehr eine Ferienfreizeit am Gardasee verbracht hast. Ach, was die wohl macht, fragt die Erinnerung, und Deine Finger tippen ihren Namen in die GoogleSuchLeiste. Mh – Gardasee. Vielleicht blühen dort schon die Narzissen? Schau’ doch mal nach einem verlängerten Wochenende, ruft die Zukunft.

Und so geht es immer weiter. Wer erlebt das nicht. Aber es sind die eigenen Gedanken, die einen zu dieser Klickreise animieren. Es sind die eigenen Wünsche und Bedürfnisse, denen ich in diesem Moment nachgebe. Vielleicht auch wider besseres Wissen. Weil da der Stapel Arbeit liegt – die Gegenwart. Im Vergleich zur Erinnerung und zur Zukunft kommt sie über ein ersticktes Piepsen manchmal aber eben nicht hinaus. Du nimmst Dir die Zeit. Und das ist gut so.

Gar nicht gut, nein gar böse ist, wenn Dir Zeit gestohlen wird. Wenn Minuten verrinnen, in denen Du nur warten kannst. In denen Du abhängig davon bist, wie andere sich die Zeit einteilen.

Wenn Du beim Arzt sitzt. Mit Termin. Dann eine Dreiviertelstunde vergeht. Und noch immer zwei vor Dir sind.

Du gehst zur Schwester, verlangst Deine Chipkarte zurück. Und die Praxisgebühr. Auf das Warum und darauf, dass es doch nur 45 Minuten seien – bis jetzt – fällt Dir zunächst keine Antwort ein. Dabei war es genau diese Antwort, die Dich hat aufstehen lassen im Warteraum. “Heute ist mein erster Urlaubstag. Und ich bin nicht gewillt, den in Ihrer Praxis zu verbringen.”

Es ist noch nicht lange her, da machte im Netz ein Artikel über ein Buch die Runde, in dem Menschen befragt wurden, was aus ihrem Leben sie vor dem Tod bedauern. Zeit zu vergeuden, weil andere unfähig sind, ihre Zeit zu managen, zähle ich dazu.

Zu gut. Zu rechts. Und noch nicht übern Berg.

Es ist ja nicht so, dass man den Kopf nicht voller Gedanken hätte, die einen selbst betreffen. Die Arbeit. Familie. Das Liebesglück.

Aber die Stimmung an deutschen Glühweinständen ist  in diesem Jahr eine andere. Da steht kaum jemand, der einem ungefragt Amaretto-Blue in Form von Eheproblemen oder allgemeingültiger Wut in die Tasse speit.

Die Deutschen haben derzeit andere Themen. Zu Guttenbergs Rückkehr. Den Rechtsextremismus sowieso. Und selbst Hartz IV als Systemfehler diskutieren die Menschen mit schweren Lippen. Dabei ruft gerade keine der großen Gewerkschaften zu Demos dagegen auf.  Passiert da etwa was? Passiert da was in den Köpfen?

Nun. Über zu Guttenberg mag ich mich gar nicht äußern. Dieser Mann berührt weder meine Geschmacksnerven noch meinen Wutsinn. Er interessiert mich nicht. Und der mediale Umschlag, der sich um ihn legt wie Haferbrei, auch nicht.

Der Rechtsextremismus und die Art, wie wir mit ihm umgehen, berühren mich da schon eher. Beides weckt die Wut. Und die Angst.

Zu Zeiten der RAF sei es gewesen, dass letztmals landesweit Menschen von Fahndungsplakaten an Laternenmasten, Litfasssäulen oder in Straßenbahnen hinunterstierten. Von denen, die nun zu sehen sind, sind zwei in die Luft geflogen. Eine sitzt im Gefängnis. Die suchen sie nicht mehr. Wen dann.

Wie viele Mitglieder dieses sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds vernichten gerade Beweismaterial. Wie viele von ihnen putzen ihre Waffen und basteln an Sprengsätzen. Welche von den Braunen sind unsere Nachbarn.

Sind es die, die ihr Obst beim “Fidschi um die Ecke” kaufen. Oder die, die “gegen Ausländer nichts haben”, ihre Tochter aber bitten, den Russen nicht mit nach Hause zu bringen. Oder sind es die, die den neuen Spanier meiden, weil er keine Pommes mit Schnitzel serviert. Oder die, die von “Dönermorden” sprechen und schreiben, während Menschen ums Leben kamen.

Und: Ist das alles ein Problem des Osten? Ja, sagt ein Freund. Dem habe das reinigende Gewitter der 68er-Bewegung gefehlt. Nein, sage ich. Es ist ein Problem der Deutschen.

Ein Volk, das bei einem Vorrundenspiel der Deutschen Fußballnationalmannschaft – bei der EM 2012 werden wir es nach der aktuellen Auslosung wohl kaum erleben – bei jedem Tor hupend und geeint durch die Straßen tobt, aber wenn es darauf ankommt, seine Rechte wahrzuehmen, den Arsch nicht hochkriegt, hat keinen Mumm. Dieses Volk hat nicht nur keinen Mumm – es hat auch kein Rückgrat.

Es lässt sich übertöpeln von politischen Entscheidungen. Von Hartz IV. Vom Kriegseinsatz in Afghanistan. Von der Vorratsdatenspeicherung. Es lässt sich führen. Auch zum Schafott.

Was eint die Menschen in diesem Land noch. Ich weiß es nicht.