Tschornomorsk – dort, wo vom Krieg keiner mehr wissen will


Wer zum ersten Mal die Sirenen hört bei Raketenalarm, kann sich ein Beispiel nehmen an dem, was um ihn herum geschieht. 

Raketenalarm, der zweite, für mich. Im Hotel zwischen den Wohnblocks in Tschornomorsk. Der erste am Tag zuvor inmitten derer, die seit elf Monaten die Sirenen hören, war gefasster. 

Nun fährt der Körper lauernden Angriff. Atmet flach. Die Muskeln – angespannt. Ohren und Augen übernehmen das Kommando. Mehr die Ohren noch. Durch die Halsschlager pulsiert das Blut im Abstand weniger Zehntelsekunden. Raus. Rauchen. Stress runterfahren. 

Ein alter Mann trägt zwei leere Wasserbehälter vorbei an einem der Neungeschosser. Der Motor eines Ladas startet. Zurück aufs Zimmer. Zähne putzen. Schreiben. Geht nicht. Also wieder raus aus dem Zimmer. Raus auf die Straße. 

Dort nehmen die Menschen keine Notiz vom ersten Alarm dieses Tages. Von den zwei weiteren, die bis zum frühen Nachmittag folgen, ebenso wenig. Also: gucken, was die anderen tun. Weitermachen mit dem, was geplant ist. 

Mit dem Zusammenbauen von Kerzen für die Front im Karate-Club von Tschornormosk zum Beispiel. Dort, wo Nationalmannschaftscoach Oleksandr Tonkoshkur und seine freiwilligen Helfer seit Kriegsbeginn Kleidung sammeln, Geschirr und Medikamente für die Flüchtlinge aus den bombardierten Städten in der Ukraine.

Dort, wo sie Kissen nähen für die Soldaten und Tarnnetze flechten. Für Kherson andere als für Bahmut. Weil die Landschaft eine andere ist, die Farben der Stoffe deshalb passen müssen. 

Wo sie in den Kindergärten und Schulen festhalten am Unterricht. Die Eltern entscheiden, ob in Präsenz oder online. Wo aus ehemaligen Sportclubs unter Tage Klassenräume werden mit Tafel, Schulbank und Chemietoilette, in Kellern plötzlich Lego steht zum Spielen und Bär, Giraffe und Koala von dunklen Wänden lächeln wie zum Trost. 

Dort, wo im Kulturhaus der Chor aus voller Kehle singt, Mädchen und Jungen Stillleben malen oder im Keller der Bibliothek tief unten Eulen basteln aus Papier. Wo im Café die Leute vor ihren Laptops den Stromausfall belachen. 

Dort, wo im Sportpalast von Tschornormorsk das Wasser im Schwimmbecken weiterhin 22 Grad hat, die Eisbahn draußen geöffnet ist. Teuer, ja. „Aber wir brauchen Emotionen, positive Emotionen“, sagt Valentyna Chloptschyk, in der Stadtverwaltung zuständig für Sport und Kultur. 

Dort, wo Sascha im Tanzsaal in den Spagat rutscht mit einer Prothese. Weil der Einschlag einer russischen Rakete in Odesa der Sechsjährigen das linke Bein genommen hat. Dort, wo ein Mann die Straße überquert, die Militäruniform noch verpackt in durchsichtiger Folie. An der Hand seine Liebste. 

Dort, wo Olena Panasyuk mit ihren Mitarbeiterinnen in Holzkisten verstaut hat, was wertvoll ist im Museum Alexander Bely für Bildende Kunst. Die Gemälde, das Porzellan, die Bronzen ukrainischer Maler und Bildhauer. Gleich nach Kriegsbeginn. Damit nicht geschieht, was in Melitopol geschah, in Mariupol oder Tschnernihiw. Allein die Unesco-Kommission zählt bislang mehr als 236 beschädigte Kulturstätten in der Ukraine. 

Ein Fremdkörper ist der, der durch die Straßen geht in Tschornomorsk bei Raketenalarm und die Ohren spitzt bei jedem Geräusch. Ein Fremdkörper auch, wer „прилуки“ kauft, die ukrainischen Zigaretten, an einem der unzähligen Kioske auf den Bürgersteigen. Ein Fremdkörper, wer abends in einer der Bars noch ein Bier bekommt. Der Ausschank von Alkohol nach 20 Uhr ist verboten. Seit Putin Krieg führt gegen die Ukraine. 

Ein Fremdkörper, dem die Blicke auf der Straße, in der Bar, im Café sagen: „Du gehörst nicht hierher.“ Nein. Ich komme aus dem Frieden. Nur, zu welchem Preis. 

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