“Ich kann Ihnen unsere Arbeit nicht als erfolgreich präsentieren. Sie ist nicht erfolgreich.” Der Bürgermeister von Kiew hat die Finger ineinander verhakt. Gut 15 Minuten zu spät kommt er zum vereinbarten Treffen. Eine Sammelunterkunft für sechs Flüchtlingsfamilien hat er eben noch eröffnet.
Er betritt den Saal schweren Schrittes. Drückt den Rücken durch. Als er endlich sitzt vor seinem Namensschild, hängen die Schultern. Suchen die Augen den Fokus im Grau der Mikrofonanlage. Jeder Nachwuchsboxer hätte Kiews Bürgermeister in diesem Zustand auf die Bretter geschickt. Vitali Klitschko – k.o. in der ersten Runde.
1,3 Millionen Menschen sind aus dem Osten des Landes geflüchtet. 1,6 Millionen – eine andere Zahl. Wirklich weiß das wohl niemand. Kiew ist überfordert. Mit den rund 100.000 Menschen, die allein in der Hauptstadt Obdach suchen. “Wohnungen für sechs Flüchtlingsfamilien – für sechs! Was wir geben, ist nicht genug.” Klitschkos Knöchel – sie werden weiß.
Ein Päckchen Makkaroni. Eines mit Tee. Eine Packung Kekse. Zucker. Kondensmilch. Eine kleine Dose Sardinen. Grieß. Erbsen aus der Dose. Rindfleisch aus der Dose. Marmelade. Sonnenblumenöl. Das muss reichen. Für einen Monat. Dazu vier Rollen Toilettenpapier. Ein wenig Waschpulver. Ein Stück Seife. 1.000 Mal am Tag packen Marina und die anderen Helfer vom ukrainischen ArbeiterSamariterBund das in die bedruckten PlastikTüten. Draußen. Weit außerhalb des Zentrums. In einem von zwei städtischen Kindersanatorien hat die Hilfsorganisation einen Lagerraum. Kostenlos bereit gestellt von der Stadt. Hellblau gefliest. Notdürftig gegen Einbrüche gesichert.
Marina kam eines Tages aus Luhansk. Eine jener umkämpften Städte im Osten, aus denen floh, wer konnte. Auf Marinas Haus geben die Nachbarn Acht. Sie sitzen fest in Luhansk. Marina bot dem ASB ihre Hilfe an. Festangestellt ist sie inzwischen.
Im Gegensatz zu sechs Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung in Kiew. Das wenigstens ist die offizielle Arbeitslosenquote, die Klitschko als eine weitere Zahl in den Raum wirft. Kein Grund, die Augen von der Mikrofonanlage abzuwenden. Von 3,8 Millionen Kiewern leben 600.000 von kommunaler Fürsorge. Das Mindesteinkommen liegt bei 1.200 Hrywnja monatlich. 50 Euro. Nach derzeitigem Kurs. Die ukrainische Währung ist so instabil wie ein MikadoGebilde.
Ähnlich zerbrechlich wirkt die Frau, die auf dem Maidan für Journalisten posiert. Mit ernsten, großen Augen blickt Luba in die Kameras, deren Blitze ihr entgegenschlagen. Gerade hat sie auf das Gebäude gezeigt, von dem aus die Scharfschützen auf die Demonstranten zielten. Dort, wo SmartphoneWerbung über eine gesamte Hausfassade heute wieder hinunterschreit auf die Touristen. Die stehen vor einer Tafel. Aufgeklebt dort Fotos von Männern jeden Alters. Verschollen auf dem Maidan. Manche von ihnen bis heute.
Wut. Angst. Gewalt. Hoffnung. Identität. Maidan. Das ist das einzig Gute, das Putin erreicht habe: In Kiew hat sei die nationale Identität gewachsen. Die Worte spricht der Mann leise. Gesagt hat er sie freilich nie. Keine einzige Anklage habe es bislang wegen der Toten auf dem Maidan gegeben. Keine einzige. Ohne Justizreform – keine Veränderung. “So lange man sich sein Urteil in der Ukraine kaufen kann, bleibt alles beim Alten. Auch bei der Korruption.” Die Antikorruptionsgesetze – bislang wenig spürbar. In Kiew setzen die Hoffnungsfrohen nun auf die EuroOptimisten. Ein interfraktioneller Zusammenschluss im Parlament. Junge Menschen, die immerhin schon Ministerposten besetzen.
Zurück auf den Maidan. Zurück zu jenem 11. Dezember 2013. Es ist gegen sieben Uhr in der Früh, als Luba aus dem Metroschacht hinaufsteigt in die Kälte der Stadt. Eine Station vor dem Maidan hat sie die Metro verlassen. In diesen Tagen müssen die Aktivisten mitunter andere Wege gehen. Luba wählt den über ein Kloster. Die Glocken läuten. Ungewöhnlich für diese Uhrzeit. Es ist der dumpfe Klang der Gefahr, den der Glöckner eigenmächtig verkündet. “Gebt acht. Gebt acht.”
Zwischenstopp für Luba im Büro. Das Projekt für eine Gedenkstätte in Schostka will noch beantragt werden, bevor sich die Mutter zweier Kinder wieder zu jenen gesellt, die für einen Wandel streiten auf dem Maidan. Dort weht ihr wenige Stunden später eine Fahne entgegen. Darauf der Name der Stadt, in der sie eben in Gedanken noch weilte: Schostka.
“Frierst Du?”, wird sie den Mann fragen, der die Fahne trägt. Und er wird nicken. Die Thermoskanne und das Wurstbrot sind schnell ausgepackt. Das erste gemeinsame Essen der nun längst Vermählten.
Solche Geschichten hört Kiews Bürgermeister derzeit nicht. Schwer auszumachen, was er überhaupt hört von den Fragen, die Journalisten ihm an diesem Vormittag stellen. Er überlegt lange, bevor er antwortet. “Wie müde sind Sie?”, will ich wissen. “Hah …”, sagt Klitschko. Wendet den Kopf zur Seite. Schüttelt sich kurz. “Wissen Sie. Sie kennen mich als Boxer. Da geht es maximal über zwölf Runden. Wie viele Runden ich jetzt hinter mir habe – ich weiß es nicht. Das hat mehr Ähnlichkeit mit einem Marathon. Aber es spielt keine Rolle, wie stark du bist: Das ist eine gemeinsame Aufgabe.” Dann muss er los. Der Boxer. Der Bürgermeister. Der noch sagt: “Ja, ich bin depressiv.”
Es bleibt zu hoffen, dass er deprimiert meint. “Meine Deutsch ist schrecklich, ich habe schon lange nicht mehr deutsch gesprochen”, ist der Satz, mit dem er uns begrüßte. Der Satz, der diese Hoffnung nährt.