Der Krieg sei vorbei

Dunkel ist es. Nasrim bläst die Kerzen aus. Zwölf an der Zahl – eine für jedes Lebensjahr. Fünf davon lebt Nasrim nun in einem Städtchen in Norddeutschland. Mit der Großmutter, dem Onkel und der Cousine. Die Mutter sieht sie fünf Jahre lang auf dem Handydisplay.

An diesem Tag nun ist sie zu spüren. Streichelt das volle schwarze Haar ihrer ältesten Tochter. Die sie gehen ließ vor fünf Jahren mit der Großmutter, der Cousine und dem Onkel. Als im Familienunternehmen niemand mehr arbeiten konnte. Weil Bomben fielen, weil die Militärpolizei die Arbeitskräfte an die Front zog. Weil Krieg war.

Nasrims Vater hat sie dann alle verkauft, die Maschinen. Die fürs Schneiden, fürs Binden, fürs Falzen. Fünf Jahre hat er so seine Familie ernährt. Das Geld ist aufgebraucht. Nun sei der Krieg vorbei, heißt es im Westen.

Aufbau – zurück mit all jenen, die anpacken können. Nasrims Vater holt das Handy aus der Hosentasche. Er scrollt lange, bis er das Video vom 25. Mai 2018 findet. Durch eine fensterlose Hauswand fällt der Blick auf Trümmer in Terrakottarot. In der Stadt nahe Damaskus liegen die Häuser auf den Straßen zwischen ausgebrannten Autos. In Nasrims ehemaligem Zuhause schieben Schuhe Schutt beiseite, eine Hand hebt das Fotoalbum auf, aus dem staubige Gesichter lächeln. Nasrims Eltern, der Onkel, die Cousine, die kleine Schwester.

Sieben ist die inzwischen. So alt wie Nasrim, als Männer sie im Sommer 2015 an der türkischen Küste in ein Schlauchboot heben. Am frühen Morgen. In orangefarbener Schwimmweste. Irgendwo draußen auf See blicken sie in die Handykamera: die Frauen, Männer, die Kinder – ängstlich, erwartungsvoll, gleichgültig. Nasrim hat davon nie erzählt.

Vielleicht spricht sie mit ihren Freundinnen darüber. Wenn Mutter und Vater zurückgekehrt sind in die Trümmer, zur Schwester, die sieben ist. Und zu der, die Nasrim noch nie sehen hat. Vielleicht erzählt Nasrim ihnen dann. Eines Abends, vor dem Einschlafen, wenn sie gemeinsam zwischen den Puppen und Legos liegen. Was passiert, wenn Menschen Menschen töten. Wenn Krieg ist.

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